DENKANSTÖSSE
von Gabriele Gerlach
Schere im Kopf
Grenzen einhalten
Grenzen überschreiten
Vor Grenzen halt machen
An Grenzen bringen
Die rote Linie übertreten!
Grenzen wurden geöffnet und neue Grenzen werden gesetzt,
nicht nur auf dem Boden - auch in den Köpfen!
Gitter aus guten Absichten. Zäune der Empörung.
Eine unsichtbare Grenze!
Und dennoch fühle ich es ganz real.
Ich fühle, wie mir der Boden unter den Füßen schwindet.
Ich verspüre Angst und suche verzweifelt nach festem Halt …
Ich höre
zwischen all dem Geschrei
um Gutmenschen und rechtem Bodensatz
um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit
um Akzeptanz und Ablehnung
um Propaganda und Ehrlichkeit
Ich höre
den leisen Hilferuf.
Ich sehe
zwischen all den trampelnden Füßen
der Alternativlosigkeit und Alternativen
der Toleranten und Intoleranten
der Lauten und Lautlosen
der Helfer und Hetzer
Ich sehe
ein zartes Pflänzchen vergehen.
Diese Pflanze ist noch jung, so fragil und gefährdet.
Man nennt sie Meinungsfreiheit.
Mich quält die Vorstellung, dass sie sterben könnte.
Doch kaum jemand scheint zu bemerken,
dass die Meinungsfreiheit in Lebensgefahr ist,
und mir scheint, am allerwenigsten diejenigen,
die sie zu verteidigen glauben.
Was ist mit der Meinung, die ich nicht teile?
Hat sie eine Existenzberechtigung?
Was ist mit der Meinung, die ich habe?
Hat sie eine Existenzberechtigung?
Darf etwas gesagt werden, das andere als unerhört oder gefährlich empfinden?
Darf der Staat seine Meinung zur allgemeingültigen Wahrheit erklären?
Ist das, was die Mehrheit meint, automatisch richtig und gut?
Ist die Meinung der Minderheit automatisch falsch und daher zu vernichten?
Ist es nicht gerade der Gegensatz, der aus Meinung erst die Meinungsfreiheit macht.
Ist nicht gerade die Meinung, die mir komplett zuwider läuft, die ich nur schwer aushalte, meine Türe zur Freiheit?
Wollen und dürfen wir sie wirklich bekämpfen und ausrotten,
die Meinung der Minderheit? Und was, wenn in meinem Kopf eines Tages eine Überzeugung reift, die nicht der Mehrheit entspricht. Verliere ich dann samt meiner Meinung auch meine Existenzberechtigung?
Jedesmal wenn einer meiner Gedanken mit einem ABER beginnt, habe ich Angst. Ich spüre sie von Tag
zu Tag mehr, die Schere in meinem Kopf und sie schmerzt. Ich denke an meinen Ruf, an meine Stellung in der Gesellschaft, an meinen Beruf, und an das Wohlwollen von Familie und Freunden, das ich
verlieren könnte.
Ich suche nach einem Ausweg – muss mein ABER verkleiden!
Und so verpacke ich meine ungehörige Meinung eilig in harmloses buntes Seidenpapier.
Doch dann finde ich das falsch und bin still.
Lieber würde ich sie hinausschreien und ihr mit hässlichen, bösen Worten entsprechendes Gewicht verleihen.
Doch dann finde ich das falsch und bin still.
ABER,
ist es richtig zu schweigen, wenn man der Mehrheit nicht nach dem Mund reden kann?
Und schon ist sie wieder da, die Schere im Kopf:
Halte deinen Mund, überlege dir gut, was du sagst, und wie du es sagst.
Deine Meinung ist vielleicht nicht konsensfähig – oder mehr noch, deine Meinung könnte sogar eines Morgens strafbar sein.
Mich schaudert. Ich höre sie, die unerwünschte Meinung.
Doch wer hat bemerkt, wie das Wort verdreht wurde, um es laut und justiziabel zu machen? Die Richtigstellung leise – nur eine Randnotiz! Der Mensch verbannt, geächtet – die Meinung auf dem Index.
Heiligt der Zweck die Mittel? Ungeachtet dessen, ob ich den Menschen schätze, unabhängig davon ob ich seine Meinung teile - darf ich wegsehen? Darf ich schweigen?
Ist die Meinung der Mehrheit von heute auch morgen noch die Mehrheitsmeinung?
Ist das, wovon ich heute überzeugt bin, auch morgen noch meine Ansicht?
Ist die gesicherte Erkenntnis von heute auch die Wahrheit von morgen?
Hat die Geschichte nicht oft genug bewiesen, dass wir immer im Nachhinein klüger sind?
Wie schwach ist eine Gesellschaft,
wenn sie Angst vor unliebsamen Meinungen hat.
Die Schere in meinem Kopf, sie schmerzt.
*Veröffentlicht 2019 im Buch Werkstattgespräche
Anthologien des Landsberger Autorenkreises
Herausgeber Band 4, Dr. Boris Schneider
Erschienen im Aspera Verlag Kaufering