Weihnachtsgeschichte 2015 von Gabriele Gerlach

 

 

 

 Angekommen

 

In diesem kleinen Bahnhof hatte der ICE noch nie gestanden. Laut Fahrplan war er zwar regelmäßig hier, aber nur für zwei Sekunden.

Heute war er nicht durchgezischt. Ganz langsam war er angekrochen gekommen, und jetzt stand er - schon über 3 Stunden. Dafür liefen die Leute im Zug auf und ab. Das Servicepersonal versuchte ruhig zu bleiben, trotz der fürchterlichen Geschichten, die sie sich anhören mussten. Jeder Fahrgast hatte einen anderen dramatisch wichtigen Grund, warum er auf jeden Fall noch heute an seinem Zielort ankommen musste. Das dichte Schneetreiben und den eisigen Wind schienen sie dabei zu ignorieren.

 

Eine ältere Dame war in Tränen aufgelöst: „Mein erstes Enkelkind, verstehen sie, mein Erstes und sein erstes Weihnachten. Und nun

kann ich nicht dabei sein!“ Der Herr in Uniform behielt sein antrainiertes >ich-habe-vollstes-Verständnis-und-wir-tun-unser-Bestes< Gesicht auf. Seine junge Kollegin hingegen schien langsam die Nerven zu verlieren. Sie verdrehte die Augen. Ein lautstark schimpfender Mann stach mit seinem Zeigefinger vor ihrem Gesicht ständig in der Luft herum: „Ich verpasse meinen Flug, herrje. Ich hasse Weihnachten!“, wetterte er, „und sie sagen mir hier mal einfach so, dass ich mir meinen wohlverdienten Urlaub in der Karibik wahrscheinlich abschminken kann! Unerhört! Ich fasse es nicht.“

 

Nun wurde eine Frau neben ihm richtig zornig: „Sie Wohlstands-bastard, was reden sie da? Mein Vater liegt im Krankenhaus - an Weihnachten - ganz allein, weil ich ihn nicht besuchen kann! Und Sie ... Sie … Urlaub, phh! Was haben Sie denn für Probleme?“ Der Frau schossen Tränen in die Augen, sie drehte sich ruckartig um und ließ den Weihnachtshasser stehen, der ihr verstummt und mit einem verstörten Blick hinterher sah.  „Und so wie es aussieht, bei der Wetterlage starten heute von Köln ohnehin keine Flüge mehr“, versuchte die Bahnstewardess noch zu erklären. Der Mann winkte ab und ging weg.

 

Einige Leute diskutierten lautstark darüber, ob man nicht doch mit dem Taxi weiterfahren könnte. „Wann hatten wir zuletzt so einen Winter?“, sinnierte ein älterer Herr. „Mir egal“, zischte eine junge Frau zurück, „ich frage mich, wieso wir es trotz all unserer modernen Technik nicht schaffen, auch im Winter einen reibungslosen Verkehr zu gewährleisten? Himmelherrgottnocheinmal, ich wohne in Deutschland und nicht am Himalaja. Da wird man es doch schaffen, ein paar umgestürzte Bäume von den Gleisen zu räumen.“

 

Der Wind wurde schärfer, die Schneeflocken dichter und das Licht spärlicher. Die Leute von der örtlichen Feuerwehr kamen mit Wolldecken und einer Gulaschkanone auf den Bahnsteig. Gut, es war keine Gulaschsuppe sondern nur eine Gemüsesuppe drin, aber immerhin, frisch und heiß. Und irgend jemand hatte es anscheinend für nötig gehalten, über die Lautsprecheranlage des Bahnhofs Weihnachtsmusik einzuspielen. Langsam beruhigten sich die gestrandeten Fahrgäste und stellten sich für die warme Suppe und heißen Tee an. Nach und nach verschwanden sie mit ihrem Abendessen im Zug. Man hatte versprochen, die Turnhalle für eine Übernachtung herzurichten, denn ausreichend Hotelzimmer gab es in dem kleinen Ort nicht.

 

Nachdenklich stieg auch der Weihnachtsmuffel wieder in den Zug und beschloss die Frau zu suchen, deren Vater krank war. Die Stimme – es war diese Stimme ... er kannte sie! Er war damals erst 5 Jahre alt, als sich seine Eltern trennten. Seine Schwester blieb beim Vater, und er ging mit seiner Mutter ins Ausland. Rastlos war sein Leben bisher gewesen. Zu seinem Vater und seiner Schwester hatte er nie mehr Kontakt gehabt. Das wollte seine Mutter nicht. Trotzdem hatte er seinem Vater zu Weihnachten immer eine Karte geschrieben, heimlich. Aber es kam nie eine Antwort und so stellte er als 17jähriger seine Versuche ein und beschloss Weihnachten in Zukunft zu ignorieren. Sein Herz schlug höher, als er sich dem Abteil näherte in dem sie saß und gerade ihre Suppe aus der Plastikschale löffelte.

 

„Lilly?“, fragte er fast ängstlich.

Die hübsche Frau blickte ihn mit ihren großen braunen Augen fragend an. Ihre Blicke verfingen sich und für einige Sekunden war es still.

„Leo?“, flüsterte sie.

Er nickte. 

„Du bist wieder da?“ 

„Ja, ... aber noch nicht lange.“

Wieder starrten sich beide an ohne etwas zu sagen.

„Deine Karten ... er hat sie alle aufgehoben und er liest sie jede Weihnachten. Aber seine Briefe an dich kamen leider immer zurück.“

Leo umarmte seine Schwester. Tränen schossen ihm in die Augen.

„Weihnachten ... wie schön", seufzte er. "Endlich ist wieder Weihnachten!".

 

In diesem Sinne wünsche ich von Herzen

ein schönes Weihnachtsfest  

und einen guten Start ins Jahr 2016