Weihnachtsgeschichte 2017 von Gabriele Gerlach
Eine seltsame Botschaft
Oma Leni hatte vier Kinder und sieben Enkelkinder – oder besser gesagt, sechseinhalb, denn das Jüngste war gerade erst fünf Monate alt. Ihre Kinder wohnten zwischenzeitlich über das ganze Land verstreut. Jedes hatte einen anstrengenden Beruf und gerade so viel Zeit, dass es eben mal für die eigene Familie reichte. Oma Leni dachte gerne an die Zeit zurück, als alle Kinder noch zuhause um den Esstisch saßen, oder an die Zeit, als sie nach und nach heirateten, aber noch in der Nähe wohnten. Was war das an den Festtagen oft für ein Trubel im Haus. Oma Leni vermisste das Lachen, das Geklapper in der Küche, oder das Geschrei der Enkelkinder. Doch das Leben setzt jeden irgendwann an seinen eigenen Platz, und das ist nicht immer der Ort, an dem man geboren wurde. Vor drei Jahren war dann auch noch ihr Mann gestorben. Die Besuche und die Telefonate mit den Kindern und Enkeln wurden seltener – es gab ja WhatsApp – so ist das eben.
Dieses Jahr zum Geburtstag bekam sie von ihren Kindern ein Tablet geschenkt, damit man öfter mal mit ihr skypen könnte. Doch so wirklich öfter wurde daraus nicht. Sorgenvoll bemerkte sie auch, dass ihre Kinder untereinander kaum noch Kontakt hatten. Nicht dass sie zerstritten gewesen wären, nein, die Zeit – es fehlte eben die Zeit. Und weil die Zeit offensichtlich von Jahr zu Jahr knapper wurde, klappte es auch dieses Jahr wieder nicht, dass sich an Weihnachten alle treffen. Also packte Oma Leni wie schon die drei vorangegangenen Jahre 15 Päckchen - nein, 14 waren es bisher – aber nun war ja die kleine Mara dazu gekommen. Also 15 Geschenke.
Doch anders als sonst, kaufte Oma Leni dieses Jahr nur 14 gleich große Schachteln Schokolade. Dann packte sie jede Schachtel in einfarbiges silbernes Papier ein – allerdings, vorher schrieb sie auf die Innenseite eines jeden Geschenkpapierbogens einige Wörter. Nachdem alle 14 verpackt waren, bekam das Geschenk für Mara ein buntes Weihnachtspapier mit Schleife, so wie sie das sonst immer für alle 14 getan hatte. Dann machten sich vier Pakete in vier verschiedene Richtungen auf den Weg. Beim Empfänger angekommen wunderten sich ihre Kinder natürlich über die lieblos verpackten silbernen Päckchen, die noch nicht einmal mit Namen versehen waren, … aber man würde in einigen Tagen schon sehen, was drin war.
Am Heiligen Abend, nachdem alle Päckchen aufgerissen waren, nachdem gegessen war, kam in allen vier Familien die Rede auf die lieblosen Schokoladenschachteln von Oma Leni. Kein individuelles Geschenk, wie sonst immer, kein Geld – nur Schokolade, und, noch nicht einmal ein Gruß von ihr.
„Doch“, meinte ihr ältestes Enkelkind, „sie hat was auf die Innenseite meines Geschenkpapiers geschrieben, aber ganz komisch, noch nicht mal ein vollständiger Satz. Ich glaub, die Oma ist dement geworden.“ – Sofort wurde das Papier aus der Mülltüte gekramt, und siehe da, auf jedem Papier stand etwas auf der Innenseite – nur, es ergab absolut keinen Sinn … bis dem Enkel die richtige Idee kam.
*Gegen 22 Uhr saßen alle 4 Familien und Oma Leni vor ihren PCs. Die spontane Weihnachts-Skype-Gruppe plapperte durcheinander und alle lachten immer wieder über den verrückten Einfall ihrer Oma. Sie hatte doch glatt eine Botschaft auf dem Geschenkpapier hinterlassen, die man nur verstand, wenn man alle 14 Satzfragmente kannte und in der richtigen Reihenfolge zusammen setzte.
„Wie schön, dass ihr meine geheimen Nachrichtenschnipsel verstanden habt“, grinste Oma Leni ins Tablet. „Für irgendwas muss dieses neumodische Ding schließlich gut sein. Und wenn ihr jetzt in eure Schachteln schaut, - unter der Schokolade – da ist noch für jeden ein Geldschein drin. Damit erfüllt ihr euch noch euren ganz individuellen Wunsch.“ Darauf antwortete ihr ältester Sohn, dass dieses Jahr die Verpackung wohl viel wertvoller gewesen sei, als der Inhalt. Alle nickten zustimmend, und so war es dieses Jahr doch ein glückliches Weihnachten im Kreise der Familie geworden.
In diesem Sinn ein fröhliches Fest
im Kreise Eurer Liebsten,
und ein glückliches Jahr 2019