Gefährliche Lektüre

 

von Gabriele Gerlach


Wenn im Herbst die Blätter lose,

und der Wind fährt in die Hose,

wenn all die Mücken die uns plagten,

und alle Schnaken die wir jagten …

 

ausgemergelt, ohne Kraft,

vom Kältetod dahingerafft,

am Boden liegen und verwesen,

ist’s Zeit ein schönes Buch zu lesen.

 

"Frau" räkelt sich am Kanapee,

für Schärfe sorgt ein Ingwertee.

Der Lesestoff gefällt dem Mädel,

das Cover ziert ein Totenschädel.

 

Agathe – so ist hier zu lesen,

sei viel-zu-lang schon reich gewesen.

Der Lieblingsneffe möcht gern erben,

doch dazu muss das Tantchen sterben.

 

Die Alte ist nicht nur vermögend,

ihr Haus steht einsam in der Gegend.

Ein Einbruch und ein schlechtes Ende,

der gute Neffe sie dann fände!

 

Draußen grollt ein Herbstgewitter.

Der Ingwertee schmeckt etwas bitter.

Das Opfer schnippelt Apfelringe,

indes der Neffe zückt die Klinge.

 

Die Lesende greift nach Gebäck.

Agathes Hals ziert nun ein Leck.

Das Rot, es sprudelt lustig munter.

Vom Sofa fällt ein Keks herunter.

 

Es sucht die blutverschmierte Hand

den Safe, hinter dem Bilderrand.

Dort liegt die heißersehnte Beute,

was den Finder hoch erfreute.

 

Doch irgendwie läuft‘s nicht ganz rund,

im Testament, da steht der Hund.

Agathes Herz gehörte Hasso

Der Killer sucht nach einem Lasso

 

Es eilt, der Hund scheint ungehalten.

Die Stirn zeigt deutlich Zornesfalten.

Die Leserin braucht Nervennahrung.

Der Meuchler dringend Tiererfahrung.

 

In Panik dient dem Neffen bloß  

ein Lexikon als Wurfgeschoss. 

Die Lesende sieht mit Vergnügen

den Ratgeber durchs Zimmer fliegen.

 

Das Nachschlagwerk erreicht sein Ziel.

Dem Hund ist das nun doch zuviel

Er beißt dem Fiesling in die Wade,

die Leserin … in Schokolade.

 

Regen prasselt an die Scheiben.

Der Mörder will am Leben bleiben.

Ein Feuerhaken kommt gelegen, 

er hilft den Gegner zu erlegen.

 

Das zweite Opfer sinkt darnieder,

es röchelt kurz und streckt die Glieder.

Im Hause herrscht jetzt Totenstille.

Die Leseratte putzt die Brille.

 

Als der Winter Einzug hält,

sind alle Spuren aus der Welt.

Das kluge Buch im Bücherschrank.

Der Feuerhaken blitzeblank.

 

Verbuddelt liegt die bleiche Leiche

im Garten bei der großen Eiche.

Und wie er tobt, der Frühlings-Sturm,

kriecht aus dem Totenkopf ein Wurm.

 

Sogleich hört man den Hasso kläffen, 

er pinkelt auf das Grab des Neffen.

Agathes Teint hat wieder Farbe,

allein am Hals sieht man ne Narbe

 

Die Bücherfreundin greift beglückt

zum letzten Keks, den sie verdrückt.

… Sie hört das leise Knacken nicht.

Ums Haus da schleicht ein Bösewicht!