Weihnachtsgeschichte   Dezember 2023  

Der weise Schneemann

 

Das Bett vibrierte, wackelte und rumpelte, wie ein wildes Tier, das versuchte sich loszureißen. Yuki schreckte aus dem Schlaf und krallte sich an der Matratze fest. Was war das? Ihr Herz raste, aber das Bett schien sich langsam wieder zu beruhigen. Es schaukelte noch ein wenig und dann war alles wieder still. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, weil sie dem Frieden noch nicht so ganz vertraute. Sie ging zum Fenster. Dicke fette Flocken tanzten vor Ihren Augen im Mondschein. Yuki fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleines Kind. Begeistert lief sie zur Haustüre, schlüpfte in ihre Stiefel, zog sich Mütze und Schal über und den dicken Daunenmantel. Dann lief sie los, Richtung Wald, ohne lange nachzudenken.

 

Seltsamerweise war es draußen gar nicht kalt. Die zauberhaften Flocken fielen auf Ihre Nase und rochen verführerisch nach Vanille, und der Schnee unter ihren Füßen war weich wie Zuckerwatte. 

Als sie den Waldrand erreichte, stand da an einer vom Mondlicht erhellten Stelle ein Schneemann. Neben ihm lag ein weißes Kaninchen, ein Reh und ein Fuchs. Der Schneemann winkte:

„Ach, da kommt ja unser Glückskind. Na endlich!“ Yuki erschrak. Schneemänner können nicht reden! Nein! Anderseits, riecht Schnee auch nicht nach Vanille. Das ist ein dummer Traum überlegte Yuki. Aber, es fühlte sich ganz und gar nicht so an.

Alles war ganz klar, ganz real und irgendwie völlig normal und wunderbar.

 

„Nun komm schon her und setz dich“, rief der Schneemann, „oder willst du die Heilige Nacht allein verbringen?“ Yuki folgte, war aber etwas verärgert. „Ich bin kein Glückskind. Verspotten kann ich mich selbst, da braucht’s keinen albernen Schneemann“, grummelte sie und setzte sich auf einen Baumstumpf. „Yuki, Kalea, Saida“, sprachen nacheinander der Fuchs, das Reh und der Hase.

„Wenn das nicht Glück genug ist“, fuhr der Schneemann lachend fort. Yuki riss die Augen auf: „Woher … warum … kennt ihr meinen Namen?“, stotterte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, schimpfte sie weiter: „Ja, das haben meine Eltern auch immer gesagt. Aller Guten Dinge sind Drei. Dreimal Glück, das reicht für dein ganzes Leben!“ Pah, dachte sie, wie sie sich doch getäuscht hatten. Sie war noch nicht mal 30 und schwamm förmlich im Unglück. Yuki war seit zwei Jahren frustrierter Single und seit drei Monaten hatte sie keine Arbeit mehr, aber dafür jede Menge Einsamkeit und Angst vor der Zukunft. Und der einzige Mann der sich für sie interessierte war offensichtlich ein kaltherziger Schneemann. „Sie hätten mich lieber Pechmarie taufen sollen“, motzte Yuki verschnupft.

 

„Jetzt hör auf dich zu bemitleiden!“ Der Schneemann schien ihre Gedanken lesen zu können. „So wie du drauf bist, kannst du dein Glück gar nicht bemerken. Selbst wenn es an deiner Türe Sturm klingelt.“ Yuki war entrüstet, plusterte sich auf, aber der Fuchs fiel ihr ins Wort: „Du bist doch schlau!“ „Vertraue dir selbst“,  setzte das Reh fort. „Und schlag auch mal einen Haken“, fügte das Kaninchen hinzu.  Und der Schneemann nickte. „Du wirst kein Glück mehr finden, wenn du dich weiterhin unter deiner Bettdecke verkriechst und jammerst.“ Der Schneemann blickte ihr tief in die Augen. „Nutze deine Talente und fang was Sinnvolles an, mit deiner Zeit, dann kommt die Freude auch wieder zu dir.“

 

Als Yuki am nächsten Morgen mit einer heißen Tasse Tee auf der Couch saß, dachte sie über den komischen Traum nach, der sich auch jetzt noch so unglaublich real anfühlte. Plötzlich hatte Yuki

ein Bild von einer Schneekugel vor Augen und ihr fiel ein, dass

sie irgendwo im Keller noch eine Kiste mit alten Kindersachen aufgehoben hatte. Hektisch kramte Sie kurz darauf in der Kiste, und da war sie, die glitzernde Schneekugel mit dem Schneemann, dem Hasen, dem Fuchs und dem Reh. Yuki schüttelte die Kugel und sah dem Schneetreiben zu. Was hatte Ihre Mama damals gesagt: „Wenn du nicht weiter weißt, dann schüttle die Kugel.

Jede Flocke die um den Schneemann tanzt, ist eine neue Chance für dich.“  Yuki grinste. Wovon habe ich im Moment mehr als genug, fragte sie sich. Ja genau, der Schneemann hat recht. Zeit!

 

Schon am zweiten Weihnachtsfeiertag saß Yuki bei Ihrer älteren, etwas sehbehinderten Nachbarin und las mit Ihr ein Buch aus deren Kindheit. Einige Tage später kochte sie mit Ihrer besten Freundin deren Lieblingsessen. Und dann war sie noch Babysitter, Behördenkram-Helfer, Renovierungs-Assistent und Lebensmittel-Einkaufs-Dienst. Und das ganz besonders Schöne dabei war, dass Yuki sich selbst beschenkt fühlte. Glück ist eben das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt. Sie spürte die Freude wieder. Mit der Lebensfreude kam auch die Kraft zurück. Sie war quirlig, voller Ideen und Tatendrang. Und so blieb es nicht aus, dass nach und nach die richtigen Ereignisse in ihr Leben kamen. Das Glück will eben eingeladen werden. Die alte Schnee-Kugel stand von nun an auf ihrem Nachttisch, um sie daran zu erinnern, dass sie ein Glückskind war. Und manchmal hatte Yuki das Gefühl, dass der Schneemann ihr zuzwinkerte.

 

*Der Name Yuki ist japanisch und bedeutet Glück, ebenso wie die hawaiianische Kalea  und die arabische Saida.

 

           Und das wünsche ich allen von Herzen

                    für das Jahr 2024

                                                 Gabriele Gerlach